Donnerstag, 15. Dezember 2011

Max und Susi

Dafür sind wir nach Manchester geflogen.
Der Alte trägt auch Brille, hat die Stellungen von beiden genau angewiesen.
Max sitzt beim Optiker in der Stanley Street auf dem Stuhl, Susi beugt sich über ihn.
Draußen auf dem Fluss zieht das Containerschiff  unter der Elfenbeinküstenflagge vorbei.
Das Atelier von Ferber haben wir vergeblich gesucht, Mrs. Irlam in der Ferndene Road haben wir gefunden, das Arosa-Hotel ist 1998 abgerissen worden.
Über Augenkrankheiten und Augen hat Sebald ja viel geschrieben, ich glaube, die lesen einfach zu viel. 







Ich befand mich damals gerade in einiger Unruhe, weil ich beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch bemerkt hatte, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft meines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Die mir bis ins einzelne vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur. Ich ängstigte mich um die Fortführung meiner Arbeit, war aber zugleich erfüllt, wenn ich so sagen darf, von einer Vision der Erlösung, in der ich mich, befreit von dem ewigen Schreiben- und Lesenmüssen, in einem Korbsessel in einem Garten sitzen sah, umgeben von einer konturlosen, nur an ihren schwachen Farben noch zu erkennenden Welt.

Nicht selten nahm er dabei auch sein Sacktuch heraus und biß, vor Zorn über unsere, wie er vielleicht nicht zu Unrecht meinte, vorsätzliche Dummheit, in es hinein. Regelmäßig tat er nach solchen Rappeln seine Brille herunter, blieb blind und wehrlos mitten in der Klasse stehen, hauchte auf die Linsen und putzte sie so hingebungsvoll, als sei er froh, uns eine Zeitlang nicht sehen  zu müssen.




Ich erinnere mich beispielsweise, vor Jahren einmal in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes in Manchester gesessen zu sein und meinen Blick durch die Linsen dieser seltsamen Testbrille auf das manchmal klarere, manchmal ganz und gar undeutlich gewordene Buch­stabenfeld in dem Leuchtkasten mir gegenüber gerichtet zu haben. Neben mir stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schildchen an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Sie war äußerst wortkarg, doch jedesmal, wenn sie sich zu mir herneigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte ich die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglich­keit. Wiederholt rückte sie das schwere Brillengestell zurecht, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an meine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen, wenn auch wahrscheinlich bloß, um mir den Kopf etwas besser auszurichten. 

Jahrestage und Zahlen,
wie lang ist das alles her,
ein Buchstabenfeld, kaum
zu entziffern durch die gläsernen
Linsen. Eigentlich, hör ich
die kleine chinesische
Optikerin sagen, eigentlich
müßten Sie das jetzt leicht
lesen können, und einen Augenblick
lang spür ich ihre Fingerkuppen
an meinen Schläfen, spüre,
wie eine Welle mein Herz
durchquert, und seh in dem hellen
Geviert des Testbilds
aneinandergereiht die Lettern
YAMOUSSOUKRO, den Namen,
ich weiß es genau, eines
großen rostigen Schiffs
aus Abidjan, das ich vor Jahren
einmal auslaufen sah
aus dem Hamburger Hafen.
Schwarze Matrosen standen
an die Reling gelehnt.
Sie winkten im Vorbeifahrn
herüber, die Sonne ging eben
unter, und die Schatten
zitterten schon
an den Rändern.














Er hat­te, in meiner Vorstellung, die Brille abgenommen und zur Seite in den Schotter gelegt. Die glän­zenden Stahlbänder, die Querbalken der Schwel­len, das Fichtenwäldchen an der Altstädter Steige und der ihm so vertraute Gebirgsbogen waren vor seinen kurzsichtigen Augen verschwommen und ausgelöscht in der Dämmerung. Zuletzt, als das schlagende Geräusch sich näherte, sah er nur mehr ein dunkel Grau, mitten darin aber, gesto­chen scharf, das schneeweiße Nachbild des Krat­zers, der Trettach und des Himmelsschrofens.





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