Montag, 30. Januar 2012

NN

II
Als ich am Christi Himmelfahrtstag 
des Vierundvierzigerjahrs auf die Welt kam, 
zog gerade die Flurumgangsprozession 
unter den Klängen der Feuerwehrkapelle 
an unserem Haus vorbei in die blühenden 
Maifelder hinaus. Die Mutter nahm dies 
zunächst für ein gutes Zeichen, nicht ahnend, 
daß der kalte Planet Saturn die Konstellation 
der Stunde regierte und daß über den Bergen 
schon das Unwetter stand, das bald darauf 
die Bittgänger zersprengte und einen 
der vier Baldachinträger erschlug. 


VII
Es war, als die Dunkelheit
einbrach, und weit unter mir
sah ich das Dach meines Hauses

Wenn der Morgen anhebt,
die Kühle der Nacht
hinauszieht in das Gefieder
der Fische, wenn wieder
sichtbar wird der Umkreis
der Luft, dann trau ich
dem Frieden bisweilen und
nehme mir vor, einen neuen
Anfang zu machen, einen Ausflug
vielleicht in eine Gegend 



für tarnfarbene Ornithologen.  












Den Horizont entlang
ziehen die Frachter
hinüber in eine andere Zeit,
gemessen am Ticken
der Geiger im Kraftwerk
von Sizewell, wo sie langsam
den Kern des Metalls
zerstören. Raunender
Wahnsinn auf der Heide
von Suffolk. Is this
the promis'd end? Oh,
you are men of stones.
Was todt ist, das
bleibt todt. Aus lieben
kommet Leben. Ich weiß nicht,
wer mir sagt, was? wie?
wo oder wenn? Ist nun
die Liebe nichts? als Alles?
Wasser? Feuer? Gut?
Böse? Leben? Todt?














.

Prostitutions-ABC Blazacs



Alphabet 1) (unillustriert)
Affen
Ausgestopfte Krokodile 
Bratenwender auf Monstranz 
Chinesische Tassen 
Dolche 
Dubarry, nackt in Wolke, Stern auf Kopf, lüstern auf Tschibuk, ergründet Spirale 
Elfenbeinschiff mit geschwellten Segeln auf Rücken regloser Schildkröte 
Federn von Thron 
Französische Schöffen und holländische Bürgermeister, gefühllos, bleich und kalt 
Friedenspfeife des Wilden 
Geheimwaffen 
Götzenbild der Tataren 
Kelch des Priesters 
Konfektschalen aus adligem Familienbesitz 
Krummschwert des Mauren 
Luftpumpe stößt Kaiser Augustus, der es erhaben kaltblütig hinnimmt 
Meißener Teller
Pantoffel aus dem Serail, grün-golden 
Pistolen 
Porzellanschüsseln 
republikanischer Säbel auf mittelalterlicher Hakenbüchse 
Riesenschlangen (grinsen Kirchenfenster an, als wollten sie ihre Zähne in Büsten schlagen, nach Lackarbeiten (Latex!) haschen oder an Kronleuchtern emporklettern) 
Rüstungen 
Salznäpfe
Sèvresvase mit dem Bild Napoleons von Madame Jaquotot 
Sphinx, Sesostris geweiht 
Tabaksbeutel des Soldaten 
Werkzeuge des Todes
(Balzacs Roman von der Wildeselhaut)
Es vermeint
- Ohr, erstickte Schreie zu vernehmen 
- Geist, unvollendete Dramen zu erfassen 
- Auge, verborgenen Lichtschein zu erspähen



Sonntag, 29. Januar 2012

Weltschatulle

"Jaffi" - so nennt mich der Alte - "Jaffi, Sie legen ein Verzeichnis - alphabetisch und systematisch [Dezimalklassifikation!] - an, für die Weltschatulle Rafaels, danach statten wir die olle Chatulla cosmologica aus!
Und wir brauchen Pictures, Pictures, Pictures - am besten 3D!"


Sehr nett, das hab' ich mir immer gewünscht - bei jedem dritten Begriff versteh' ich nur Bahnhof ...
Ich soll, sagt der Alte, mir den Satz auf der Zunge zergehen lassen, wie sich Balzac prostituiert. (Hatte der was mit Nutten?) Soll wie Chatwin Lederfetischist gewesen sein.
Da helfen nur feste Regeln:  den Fetisch kann man nicht so einfach ablegen, das weiß ich aus eigenem Fetisch. Aber Kompromisse müssen drin sein.
Regel 1: Man darf nur an bestimmten Tagen Leder tragen
Regel 2: Mann braucht Anreiz, das er auch etwas davon hat (einfach auch mal in ein Lederoutfit schmeissen).
Regel 3: Nackt ist schöner
Regel 4: Latex ist geil
Mit Bildern sieht's schlecht aus, muss mal bei Rubens suchen. Wer einen Tipp hat, bitte melden!

Gruß

Euer Jaffi (Ja kob Phi lipp)











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Freitag, 27. Januar 2012

Szenario ERINNERUNG

 j'avais des vertiges, 
comme lorsqu'on regarde la terre du haut de ces tours 
qui se perdent dans le ciel. 


Combourg, Reimes, Brest, St. Malo, Philadelphia, New York, Boston, Brüssel, die Insel Jersey, London, Beccles und Bungay, Mailand, Verona, Venedig, Rom, Neapel, Wien, Berlin, Potsdam, Konstantinopel, Jerusalem, Neuchâtel, Lausanne, Basel, Ulm, Waldmünchen, Teplitz, Karlsbad, Prag und Pilsen, Bamberg, Würzburg und Kaiserslautern und dazwischen immer Versailles, Chantilly, Fontainebleau, Rambouillet, Vichy und Paris — das sind nur einige Stationen der jetzt an ihr Ende gekommenen Reise. 




Max, Reverend Ives und seine Tochter Charlotte sitzen der Hochwürdigsten Eminenz Fesch und seinem Sekretär aus römischen Zeiten, Vicomte Chateuabriand, gegenüber, auf dem Friedhof in Ilketshall St. Margaret vor der Kirche mit dem Rundturm. 




Die Pfarrherren, die im 18. und 19. Jahrhundert auf solchen abgelegenen Posten ein Amt versahen, lebten mit ihren Familien nicht selten in der nächsten kleinen Stadt und kutschierten bloß ein-, zweimal in der Woche aufs Land hinaus, um eine Messe zu lesen oder sonst ein wenig nach dem Rechten zu sehen. Einer dieser Pfarrherren von Ilketshall St. Margaret ist der Reverend Ives gewesen, ein Mathematiker und Hellenist von einigem Ansehen, der mit seiner Frau und Tochter in Bungay haus hielt und von dem überliefert ist, daß er in der Dämmerstunde gern ein Glas Kanariensekt zu sich nahm.


Joseph Fesch war, wie ich später in meinem alten Guide Bleu nachlas, der Sohn einer späten zweiten Ehe der Mutter Letizia Bonapartes mit einem in genuesischen Diensten stehenden Schweizer Offizier gewesen und somit ein Stiefonkel Napoleons. Zu Beginn seiner ekklesiastischen Karriere versah er ein unbedeutendes Kirchenamt in Ajaccio. Nachdem er aber von seinem Neffen zum Erzbischof von Lyon und Generalbevollmächtigten am Heiligen Stuhl ernannt worden war, entwickelte er sich zu einem der unersättlichsten Kunstsammler seiner Zeit, einer Zeit, in der der Markt im wahrsten Sinne des Wortes überflutet war mit Gemälden und Artefakten, die während der Revolution aus. Kirchen, Klöstern und Schlössern geholt, den Emigrés abgenommen und bei der Plünderung der holländischen und italienischen Städte erbeutet wurden.



Fesch beabsichtigte nichts weniger, als mit seiner privaten Sammlung den gesamten Verlauf der europäischen Kunstgeschichte zu dokumentieren. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Bilder er tatsächlich besaß, aber es sollen an die dreißigtausend gewesen sein. Unter dem, was nach seinem 1838 erfolgten Tod und nach diversen Winkelzügen des mit der Testamentsvollstreckung beauftragten Joseph Bonaparte in das eigens in Ajaccio gebaute Museum gelangte, befinden sich eine Madonna von Cosimo Tura, Botticellis Jungfrau unter einer GirlandePier Francesco Cittadinis Stilleben mit türkischem Teppich, Spadinos Gartenfrüchte mit PapageiTizians Porträt des jungen Manns mit dem Handschuh und andere wundervolle Gemälde.


Die Rekapitulierung der Vergangenheit ist von Anbeginn ausgerichtet auf den Tag der Erlösung, im Falle Chateaubriands auf den 4. Juni 1848, an dem der Tod in einem Rez-de-chaussée in der Rue du Bac ihm die Feder aus der Hand nimmt ...


Am Anfang der Laufbahn steht die Kindheit in Combourg, deren Beschreibung mir schon nach der ersten Lektüre unvergeßlich geblieben ist. Francois-René ist das jüngste von zehn Kindern, von denen die ersten vier nur ein paar Monate jeweils am Leben waren. Die Nachgeborenen werden auf die Namen Jean-Baptiste, Marie-Anne, Bénigne, Julie und Lucile getauft. Alle vier Mädchen sind von einer seltenen Schönheit, insbesondere Julie und Lucile, die beide umkommen werden in den Stürmen der Revolution. Die Familie der Chateaubriands lebt in völliger Abgeschiedenheit mit einigen Dienstboten im Herrenhaus von Combourg, in dessen weiten Räumlichkeiten und Gängen sich ein halbes Ritterheer hätte verlaufen können. Abgesehen von ein paar benachbarten Edelleuten wie dem Marquis von Monlouet oder dem Grafen Goyon-Beaufort kam kaum einmal jemand auf das Schloß zu Besuch. Vor allem in der Winterszeit, schreibt Chateaubriand, vergingen oft Monate, ohne daß irgendein Durchreisender oder Fremder an das Tor unserer Festung geklopft hätte.


Weit größer noch als die Trauer über der Heide war darum die Trauer im Inneren dieses einsamen Hauses. Wer unter seinen Gewölben herumging, hatte Anwandlungen, wie man sie haben mag beim Betreten einer Kartause. Um acht Uhr immer schlug die Glocke zum Nachtmahl. Nach dem Nachtmahl setzten wir uns noch einige Stunden ans Feuer. Der Wind klagte im Kamin, die Mutter seufzte auf dem Kanapee, und der Vater, den ich, außer bei Tisch, nie sitzen gesehen habe, wanderte bis zur Bettzeit ununterbrochen in dem riesigen Saal auf und ab. Er trug stets eine Robe aus einem weißwollenen Zottelstoff und eine ebensolche Kappe auf dem Kopf. Sowie er sich bei diesen Promenaden etwas entfernte aus der Mitte des nur von dem flackernden Kaminfeuer und einer einzigen Kerze erleuchteten Raums, begann er in den Schatten zu verschwinden, und einmal ganz eingetaucht in die Dunkelheit, vernahm man nur mehr seine Schritte,  bis er wieder zurückkam in seiner eigenartigen Aufmachung gleich einem Gespenst. 


Während der schönen Jahreszeit saßen wir in der entfallenden Nacht oft draußen auf der Treppe vor dem Haus. Der Vater schoß mit der Flinte auf die ausfliegenden Eulen, und wir Kinder schauten mit der Mutter hinüber zu den schwarzen Wipfeln des Waldes und hinauf in den Himmel, wo einer nach dem andern die Sterne aufgingen. Mit siebzehn Jahren, schreibt Chateaubriand, habe ich Combourg verlassen. Der Vater machte mir eines Tages die Eröffnung, daß ich von nun an meinen eigenen Weg gehen müsse, daß ich in das Régiment de Navarre eintreten und morgen über Rennes nach Cambrai abreisen würde.  Hier, sagte er, sind einhundert Louis d'or. Vergeudet sie nicht und bringt niemals Unehre auf Euren Namen. Er litt zum Zeitpunkt meines Abschieds bereits an der fortschreitenden Paralyse, die ihn schließlich ins Grab bringen sollte. Sein linker Arm zuckte andauernd, und er mußte ihn festhalten mit der rechten Hand. So stand er, nachdem er seinen alten Degen mir übergeben hatte, mit mir vor dem Cabriolet, das schon wartete auf dem grünen Hof. Wir fuhren den Fahrweg beim Fischweiher hinauf, ich sah noch einmal den Mühlenbach glänzen und die Schwalben kreuzen über dem Schilf. Dann blickte ich voraus, auf das weite, vor mir sich eröffnende Feld.


Man schreibt das Jahr 1795. In den Sommermonaten kommt öfters ein junger französischer Adeliger zu Besuch, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Ives unterhält sich mit ihm meist über die Homerischen Epen, über die Rechenkunst Newtons und über die amerikanischen Reisen, die sie beide gemacht haben. Was für Weiten man dort durchmaß und was für Wälder sich dort ausdehnten mit Bäumen, deren Schäfte höher hinaufragten als die Pfeiler der größten Kathedralen. Und die in die Tiefe hinabstürzenden Wassermassen des Niagara, was bedeutete ihr ewiges Tosen, wenn nicht auch ein Mensch am Ufer des Katarakts stand und seiner Verlassenheit inne war in dieser Welt. Charlotte, die fünfzehnjährige Tochter des Rektors, lauschte mit wachsender Hingabe diesen Gesprächen, insbesondere wenn der vornehme Gast phantastische Geschichten ausmalte, in denen federgeschmückte Krieger vorkamen und Indianermädchen, deren dunkle Haut einen Anhauch zeigte von moralischer Blässe. Einmal mußte sie vor lauter Rührung sogar geschwind in den Garten hinauslaufen, als davon erzählt wurde, daß der brave Hund eines Eremiten ein solches in der Seele schon zum Christentum hingeneigtes Mädchen sicher durch die gefahrvolle Wildnis geleitete. Von dem Erzähler später befragt, was an seiner Schilderung sie so besonders bewegt habe, äußerte Charlotte, es sei vor allem das Bild des Hundes gewesen, wie er mit der Laterne, die er an einem Stecken trug in seinem Maul, der angsterfüllten Atala vorausgeleuchtet habe auf ihrem Weg durch die Nacht. Dergleichen Kleinigkeiten seien es immer, die sie ergriffen, weitaus mehr als die hohen Gedanken. 


Es lag also sicherlich in der Entwicklung der Dinge, daß der aus seinem Heimatland verbannte, in den Augen Charlottes ohne Zweifel von einer romantischen Aura umgebene Vicomte im Verlaufe der Wochen allmählich die Aufgaben eines Hauslehrers und Vertrauten übernahm. Daß man im Französischen sich übte, Diktate und Konversation machte, verstand sich von selbst. Charlotte bat ihren Freund aber auch, ihr weiter ausgreifende Studienpläne auszuarbeiten über das Altertum, über die Topographie des Heiligen Landes und über die italienische Literatur. Lange Nachmittagsstunden lasen sie miteinander in Tassos Gerusalemme Liberata und in der Vita Nuova, und nicht selten zeigten sich dabei scharlachrote Flecken am Hals des jungen Mädchens und klopfte dem Vicomte das Herz bis unter die Halsbinde. Mit einer Musikstunde endete meistens der Tag. Wenn es im Inneren des Hauses bereits ein wenig dämmerte, draußen aber das westliche Licht noch den Garten durchstrahlte, spielte Charlotte das eine oder andere Stück aus ihrem Repertoire, und der Vicomte, appuyé au baut du piano, hörte ihr schweigend zu. Er war sich der Tatsache bewußt, daß sie sich durch das gemeinsame Studium Tag für Tag näher kamen, suchte die größte Zurückhaltung sich aufzuerlegen, war überzeugt, daß er es nicht wagen würde, Charlotte den Handschuh aufzuheben, und fühlte sich dennoch unwiderstehlich angezogen von ihr. Mit einiger Konsternation, so schreibt er später in seinen Erinnerungen von jenseits des Grabs, sah ich bald den Augenblick voraus, an dem ich gezwungen sein würde, mich zurückzuziehen. Das Abschiedsdiner war eine tieftraurige Angelegenheit, bei der niemand etwas Rechtes zu sagen wußte und wo am Ende, zum Erstaunen des Vicomtes, nicht die Mutter, sondern der Vater mit Charlotte sich in den Drawing Room hinüberbegab. Die Mutter aber, die, in der außergewöhnlichen Rolle, die sie unter Hintansetzung aller hergebrachten Sitte zu spielen hatte, nun selber, wie der Vicomte bemerkt, ungemein verführerisch wirkte, hielt bei dem sozusagen schon im Abreisen Begriffenen um seine Hand an für ihre, ihm in ihren Gefühlen, wie sie sagte, ganz und gar bereits angehörige Tochter.


Sie haben kein Vaterland mehr, sagte sie, Ihre Güter sind veräußert, Ihre Eltern nicht mehr am Leben, was also könnte Sie zurückrufen nach Frankreich. Bleiben Sie bei uns und treten Sie hier in Ihr Erbe ein als unser angenommener Sohn. Der Vicomte, der die Großzügigkeit dieses gegen einen mittellosen Emigranten vorgebrachten Angebots kaum zu fassen vermochte, sah sich durch die von dem Reverend Ives offenbar gebilligte Intervention in den denkbar größten inneren Aufruhr gestürzt. Denn einerseits ersehnte er, wie er schreibt, nichts so sehr, als unerkannt von der Welt im Schoße dieser einsamen Familie den Rest seines Lebens zubringen zu dürfen, andererseits war jetzt der melodramatische Moment gekommen, da er die Eröffnung machen mußte, daß er bereits verehelicht sei. Zwar war die von ihm in Frankreich eingegangene, von seinen Schwestern gewissermaßen über seinen Kopf hinweg arrangierte Ehe eine Art Formsache geblieben, aber das änderte nicht im geringsten die Unhaltbarkeit seiner von ihm selbst mitverschuldeten peinlichen Lage. Als er das von Mme. Ives mit halb niedergeschlagenen Augen vorgebrachte Angebot ausschlägt mit dem Verzweiflungsruf  Arrêtez! Je suis marié!, fällt diese in Ohnmacht, und ihm bleibt nichts, als das gastliche Haus auf der Stelle zu verlassen mit dem Vorsatz, nie mehr wiederzukehren. 


Später, bei der Niederschrift der Erinnerung an den unglückseligen Tag, fragt er sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn er sich verwandelt und in der entlegenen englischen Grafschaft ein Leben als gentleman chasseur geführt hätte. Wahrscheinlich hätte ich dann niemals auch nur ein einziges Wort zu Papier gebracht, wahrscheinlich hätte ich schließlich sogar meine Sprache vergessen. Wieviel, fragt er sich, würde Frankreich verloren haben, wenn ich solchermaßen mich aufgelöst hätte in Luft? Und wäre es nicht am Ende ein besseres Leben gewesen? Ist es nicht unrecht, sein Glück für die Ausübung eines Talents zu vergeuden? Wird mein Geschriebenes hinausreichen über mein Grab? Wird überhaupt irgend jemand es noch begreifen können in einer von Grund auf veränderten Welt? — 




Der Vicomte schreibt diese Zeilen im Jahr 1822. Er ist jetzt Botschafter des Königs von Frankreich am Hof Georgs IV. Eines Morgens, als er in seinem Kabinett bei der Arbeit sitzt, wird ihm von seinem Kammerdiener gemeldet, eine Lady Sutton sei vorgefahren und wünsche ihn zu sprechen. Als die fremde Dame, in Begleitung von zwei etwa sechzehnjährigen Knaben, die gleich ihr Trauer tragen, über die Schwelle tritt, scheint es ihm, als könne sie sich kaum aufrecht halten vor innerer Bewegung. Der Vicomte nimmt sie bei der Hand und geleitet sie zu einem Sessel. Die beiden Knaben stellen sich ihr zur Seite. 


Die Dame aber sagt mit leiser, gebrochener Stimme, indem sie die schwarzen Seidenbänder, die von ihrer Haube herabhängen, ein wenig beiseite streift, Mylord, do you remember me? Und ich, schreibt der Vicomte, erkannte sie wieder, nach siebenundzwanzig Jahren saß ich wieder zu ihrer Seite, und die Tränen traten mir in die Augen, und ich sah sie, durch den Schleier dieser Tränen hindurch, gerade so, wie sie gewesen war in jenem so lang schon in die Schatten gesunkenen Sommer. Et vous, Madame, me reconnaissez-vous? fragte ich sie. Sie jedoch erwiderte nichts, sondern blickte mich bloß an mit einem dermaßen traurigen Lächeln, daß ich ahnte, daß wir uns geliebt hatten, weit mehr, als ich mir damals eingestand.-  
Ich trage Trauer um meine Mama, sagte sie, der Vater ist schon vor Jahren verstorben. Mit diesen Worten entzog sie mir ihre Hand und bedeckte ihr Angesicht. Meine Kinder, fuhr sie nach einiger Zeit fort, sind die Söhne des Admirals Sutton, den ich geheiratet habe drei Jahre nachdem Sie fortgereist sind von uns. Verzeihen Sie mir. Mehr vermag ich heute nicht zu sagen. — 



ERINNERUNG 2

Ich gab ihr meinen Arm, heißt es in den Aufzeichnungen des Vicomte, und hielt, indem ich sie durch das Haus, über die Treppe hinab zu ihrem Wagen zurückführte, ihre Hand gegen mein Herz und spürte sie zittern am ganzen Leib. Wie zwei stumme Diener saßen die beiden dunklen Knaben, als sie davonfuhr, ihr gegenüber. Quel boulversement des destinees! Ich habe, schreibt der Vicomte, Lady Sutton in den nachfolgenden Tagen noch viermal besucht an der Adresse in Kensington, die sie mir gegeben hatte. Die Söhne waren jedesmal außer Haus. Und wir sprachen und schwiegen, und mit jedem "Erinnern Sie sich?"  kam deutlicher unser vergangenes Leben herauf aus dem grausamen Abgrund der Zeit. Bei meinem vierten Besuch hat Charlotte mich gebeten, für den älteren ihrer beiden Söhne, der vorhatte, nach Bombay zu gehen, ein Wort einzulegen bei George Canning, der gerade zum Gouverneur von Indien ernannt worden war. Einzig dieser Bitte wegen, sagte sie, sei sie nach London gekommen, und jetzt müsse sie wieder nach Bungay zurück. Farewell! I shall never see you again! Farewell!— 



Lange Stunden habe ich mich nach dem schmerzhaften Abschied in meinem Kabinett in der Botschaft eingeschlossen und, unterbrochen immer wieder von vergeblichem Nachsinnen und Räsonieren, unsere unglückliche Geschichte zu Papier gebracht. Unabweisbar blieb dabei in mir die Frage, ob ich Charlotte Ives, schreibenderweise nicht abermals und endgültig verriet und verlor. Wahr ist allerdings auch, daß ich mich meiner Erinnerungen, die so oft und so unversehens mich überwältigen, anders nicht als durch das Schreiben zu erwehren vermag. Blieben sie verschlossen in meinem Gedächtnis, sie würden schwerer und schwerer wiegen im Laufe der Zeit, so daß ich wohl zuletzt zusammenbrechen müßte unter ihrer ständig zunehmenden Last. Monate- und jahrelang liegen die Erinnerungen schlafend in unserem Inneren und wuchern im stillen fort und fort, bis sie von irgendeiner Geringfügigkeit heraufgerufen werden und auf seltsame Weise uns blind machen fürs Leben. Wie oft habe ich darum meine Erinnerungen und die Übertragung der Erinnerung in die Schrift als ein erniedrigendes, im Grunde verdammenswertes Geschäft empfunden! Und doch, was wären wir ohne Erinnerung? Wir wären nicht imstande, die einfachsten Gedanken zu ordnen, das gefühlvollste Herz verlöre die Fähigkeit einem anderen sich zuzuneigen, unser Dasein bestünde nur aus einer endlosen Abfolge sinnloser Augenblicke, und es gäbe nicht die Spur einer Vergangenheit mehr. Was für ein Elend ist nicht unser Leben! So voller verkehrter Einbildungen ist es, so vergeblich, daß es beinahe nichts ist als der Schatten der Chimären, die unser Gedächtnis entläßt. Immer furchtbarer wird in mir das Gefühl der Entfernung. Als ich gestern durch den Hyde Park gegangen bin, erschien ich mir unsagbar armselig und verstoßen in der bunten Menge. Wie von weitem sah ich die schönen jungen Engländerinnen, mit jener sehnsüchtigen Verwirrung, die ich früher in der Umarmung verspürte. Und heute hebe ich kaum noch das Auge von meinem Werk. Ich bin beinahe unsichtbar geworden, gleiche gewissermaßen schon einem Toten. Vielleicht umgibt darum, von meiner Warte aus gesehen, ein besonderes Geheimnis die von mir fast schon verlassene Welt.





Hingham



Die Kamera bewegt sich dann von rechts nach links in einem weiten Bogen
und zeigt uns das Panorama
einer von Bergzügen umgebenen,
sehr indisch aussehenden Hochebene,
auf der zwischen grünem Gebüsch und Waldungen
pagodenartige Turm- oder Tempelbauten mit seltsam dreieckigen Fassaden aufragen,
Follies,
die in dem pulsierend das Bild überblendenden Licht
mich stets von neuem erinnern
an die Segel der Windpumpen von Lasithi,
die ich in Wirklich­keit noch gar nicht gesehen habe.

  Mitte Mai 1971 sind wir aus Priors Gate aus­-
gezogen, weil Clara eines Nachmittags kurzer-
hand ein Haus gekauft hatte. 
































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Donnerstag, 26. Januar 2012

Wieder ein Schreibfehler - Absicht?

Völlig unverständlich für mich das Triptychon:
Was soll "eine Reise aus Brüssel" - war er in der Belgischen Hauptstadt oder ist er ausgereist?
Dass der Schnee weiß ist, klar, aber die Orangenkiste aus Palästina?
Was ist "auf die Suche" nach Breughel?








In Santorin war ich schon, aber Phosphor am Ruder?
(Über das Land und das Wasser S. 17)
Der Alte meint, Creuve ist Creuz - gefunden habe ich nichts in Google,
außer eine Schule in Brüssel mit komischen unscharfen Fotos.
Wer weiß mehr?

Q-Zimmer

Quadratisti 


Qeen of the desert


Queen's Own Royal West Kent Regiment 




Quelle-Katalog  


Quietismus




Sir William Cuthbert Quilter




Quincunx 


Quinzaine d'Aviation de la Baie de Seine 



Mittwoch, 25. Januar 2012

Kontakte

Jetzt hat er endlich eine heiße Spur:
Die Frau eines Psychiaters aus Münsters, Annette von Berg, hat angerufen und dem Alten gesagt, dass ihr Mann an einem Forschungsprojekt über den Major Georg Wyndham Le Strange arbeitet.


Ich musste den googeln und bin auf einen Zeitungsausschnitt gestoßen und eine Seite "Selysses". Der Alte war stinkig, weil dort behauptet wird, Sebald sei ein Fälscher. Jetzt wollen wir mal selbst ins War-Museum und nach Bergen-Belsen.
Ich werde berichten!
Ihr J. Ph. F.


P.S.
Den Presseartikel hat Sebald auch verwendet









W. G. Sebald Nach der Natur Beamer 1

Die ersten Entwürfe für die Beamer-Präsentation sind fertig, sie richten sich am
Lindenhardter Altar und dem Elementargedicht-Triptychon aus.
Der Grundrahmen:
Außen in den Flügeln und im Zentrum wechselnde Themen, wie die Jugend Grünewalds in der Mitte die 2. Kamtschatka-Expedition, wohl überhaupt die größte ihrer Art ...
Ein Beispiel: 
Dann kommen Texte dazu - und dann passiert mir, was der Alte immer  "sebaldsche Koninzidenz" nennt. Ich gehe mit meiner Tochter, die Konfirmandenunterricht hat, in die Kirche an unserem Ort, und was verteilt der Pfarrer und worüber predigt er? Das da:



Der Wald weicht zurück, wahrlich,
in solcher Weite, daß man nicht kennt,
wo er einmal gelegen, und das Eishaus
geht auf, und der Reif zeichnet ins Feld
ein farbloses Bild der Erde.
So wird, wenn der Sehnerv
zerreißt, im stillen Luftraum
es weiß wie der Schnee
auf den Alpen.

Dabei
übte er sich ein in das Ertragen
der Bitternis und der Einsamkeit,
denn die Bäckerstochter,
die er aufgrund seiner Hoffnung,
daß man vielleicht auch in der Ferne
zuhause sein könne, und aufgrund
ihres, wie es schien, bedingungslosen
Versprechens, mit ihm überallhin
fahren zu wollen, geehelicht hatte,
war, naturgemäß, zuletzt doch nicht willens gewesen,
die Reise um die halbe Kugel der Welt
mit ihm zu machen. Statt ihrer
hatte Steller jetzt zwei
junge Raben, die ihm des Abends
ominöse Sprüche diktierten.
Wenn er sie aufschrieb,
war er beruhigt, obgleich er wußte,
daß er auch damit den langsamen Fraß
in seiner Seele nicht
würde aufhalten können.

Als Trost bleibt
das Unglück anderer Leute
giftgclb am Hut der Geliebten
und war doch früher so schön.
Prosa aus dem letzten Jahrhundert,
ein Kleid, das sich in den Disteln
verfing, ein bißchen Blut, eine
Exaltation, ein zerrissener Brief,
ein Uniformsternchen und längere
Aufenthalte am Eenster. Ungute
Phantasien in einer dunklen
Kammer, nachgetragene Sünden,
ja Thränen sogar und im Gedächtnis
der Fische ein sterbendes Feuer,
Emma, wie sie den Hochzeitsstrauß
verbrennt. Was soll da ein armer
Landarzt sich denken? Beim Leichenbegängnis
träumt er von einem glänzenden Paar
Lackstiefeln und einer posthumen
Verführung. Jetzt aber kommt
eine farblose Zeit.
Wir blicken
über die Schlacht hin und sehen,
von Norden nach Süden schauend,
sehn wir ein Lager mit weißen 
persischen Zelten im Abendglanz liegen 
und eine Stadt an der Küste. 
Draußen mit geschwellten Segeln 
fahren die Schiffe, und die Schatten
rühren bereits an Zypern, und jenseits 
dehnt das Festland Ägyptens sich aus. 
Das Nildelta ist zu erkennen, 
die Halbinsel Sinai, das rote Meer 
und weiter noch in der Ferne 
das im schwindenden Licht sich 
auftürmende Schnee- und Eisgebirge 
des fremden, unerforschten und 
afrikanischen Kontinents.

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Richtig traurig ist der Alte geworden beim Einscannen der Texte.
Er hatte unter die letzten Zeilen in sein Taschenbuch mit Bleistift geschrieben 
Lüneburg 27.6.02 22-02
"Da war Sebald schon ein halbes Jahr tot, wie gern hätte ich ihn einmal persönlich
gehört und gesehen. 
Es war das Erste, was ich von ihm las und wusste sofort:
Da ist ein ganz Großer am Werk ..." 








Dienstag, 24. Januar 2012

Entdeckung

Gestern hat der Alte ganz überrascht festgestellt, dass Chateaubriand (Die Ringe des Saturn!), ja Sekretär war bei dem kunstgeilen Verwandten vom Napoleon (Kardinal Fesch, nach dem das Museum heißt, wo wir auch noch hinwollen in Korsika, wegen dem Friedhof in irgendeinem Kaff: Campo Santo!)




Der ist was rumgekommen in der Welt der Chateaubriand, aber dass er Charlotte Ives so hat hängen lassen?




Der Alte sagt, das sei nicht die einzige gewesen ...


Ich habe die Stelle über diese Sache mit der Charlotte Sutton nochmal gelesen, hat mir wirklich gut gefallen.
Der Alte sagt: Alles abgekupfert!
Muss ich mal überprüfen.


Bis bald


J. Ph. F.