Freitag, 27. Januar 2012

ERINNERUNG 2

Ich gab ihr meinen Arm, heißt es in den Aufzeichnungen des Vicomte, und hielt, indem ich sie durch das Haus, über die Treppe hinab zu ihrem Wagen zurückführte, ihre Hand gegen mein Herz und spürte sie zittern am ganzen Leib. Wie zwei stumme Diener saßen die beiden dunklen Knaben, als sie davonfuhr, ihr gegenüber. Quel boulversement des destinees! Ich habe, schreibt der Vicomte, Lady Sutton in den nachfolgenden Tagen noch viermal besucht an der Adresse in Kensington, die sie mir gegeben hatte. Die Söhne waren jedesmal außer Haus. Und wir sprachen und schwiegen, und mit jedem "Erinnern Sie sich?"  kam deutlicher unser vergangenes Leben herauf aus dem grausamen Abgrund der Zeit. Bei meinem vierten Besuch hat Charlotte mich gebeten, für den älteren ihrer beiden Söhne, der vorhatte, nach Bombay zu gehen, ein Wort einzulegen bei George Canning, der gerade zum Gouverneur von Indien ernannt worden war. Einzig dieser Bitte wegen, sagte sie, sei sie nach London gekommen, und jetzt müsse sie wieder nach Bungay zurück. Farewell! I shall never see you again! Farewell!— 



Lange Stunden habe ich mich nach dem schmerzhaften Abschied in meinem Kabinett in der Botschaft eingeschlossen und, unterbrochen immer wieder von vergeblichem Nachsinnen und Räsonieren, unsere unglückliche Geschichte zu Papier gebracht. Unabweisbar blieb dabei in mir die Frage, ob ich Charlotte Ives, schreibenderweise nicht abermals und endgültig verriet und verlor. Wahr ist allerdings auch, daß ich mich meiner Erinnerungen, die so oft und so unversehens mich überwältigen, anders nicht als durch das Schreiben zu erwehren vermag. Blieben sie verschlossen in meinem Gedächtnis, sie würden schwerer und schwerer wiegen im Laufe der Zeit, so daß ich wohl zuletzt zusammenbrechen müßte unter ihrer ständig zunehmenden Last. Monate- und jahrelang liegen die Erinnerungen schlafend in unserem Inneren und wuchern im stillen fort und fort, bis sie von irgendeiner Geringfügigkeit heraufgerufen werden und auf seltsame Weise uns blind machen fürs Leben. Wie oft habe ich darum meine Erinnerungen und die Übertragung der Erinnerung in die Schrift als ein erniedrigendes, im Grunde verdammenswertes Geschäft empfunden! Und doch, was wären wir ohne Erinnerung? Wir wären nicht imstande, die einfachsten Gedanken zu ordnen, das gefühlvollste Herz verlöre die Fähigkeit einem anderen sich zuzuneigen, unser Dasein bestünde nur aus einer endlosen Abfolge sinnloser Augenblicke, und es gäbe nicht die Spur einer Vergangenheit mehr. Was für ein Elend ist nicht unser Leben! So voller verkehrter Einbildungen ist es, so vergeblich, daß es beinahe nichts ist als der Schatten der Chimären, die unser Gedächtnis entläßt. Immer furchtbarer wird in mir das Gefühl der Entfernung. Als ich gestern durch den Hyde Park gegangen bin, erschien ich mir unsagbar armselig und verstoßen in der bunten Menge. Wie von weitem sah ich die schönen jungen Engländerinnen, mit jener sehnsüchtigen Verwirrung, die ich früher in der Umarmung verspürte. Und heute hebe ich kaum noch das Auge von meinem Werk. Ich bin beinahe unsichtbar geworden, gleiche gewissermaßen schon einem Toten. Vielleicht umgibt darum, von meiner Warte aus gesehen, ein besonderes Geheimnis die von mir fast schon verlassene Welt.





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