Freitag, 27. Januar 2012

Szenario ERINNERUNG

 j'avais des vertiges, 
comme lorsqu'on regarde la terre du haut de ces tours 
qui se perdent dans le ciel. 


Combourg, Reimes, Brest, St. Malo, Philadelphia, New York, Boston, Brüssel, die Insel Jersey, London, Beccles und Bungay, Mailand, Verona, Venedig, Rom, Neapel, Wien, Berlin, Potsdam, Konstantinopel, Jerusalem, Neuchâtel, Lausanne, Basel, Ulm, Waldmünchen, Teplitz, Karlsbad, Prag und Pilsen, Bamberg, Würzburg und Kaiserslautern und dazwischen immer Versailles, Chantilly, Fontainebleau, Rambouillet, Vichy und Paris — das sind nur einige Stationen der jetzt an ihr Ende gekommenen Reise. 




Max, Reverend Ives und seine Tochter Charlotte sitzen der Hochwürdigsten Eminenz Fesch und seinem Sekretär aus römischen Zeiten, Vicomte Chateuabriand, gegenüber, auf dem Friedhof in Ilketshall St. Margaret vor der Kirche mit dem Rundturm. 




Die Pfarrherren, die im 18. und 19. Jahrhundert auf solchen abgelegenen Posten ein Amt versahen, lebten mit ihren Familien nicht selten in der nächsten kleinen Stadt und kutschierten bloß ein-, zweimal in der Woche aufs Land hinaus, um eine Messe zu lesen oder sonst ein wenig nach dem Rechten zu sehen. Einer dieser Pfarrherren von Ilketshall St. Margaret ist der Reverend Ives gewesen, ein Mathematiker und Hellenist von einigem Ansehen, der mit seiner Frau und Tochter in Bungay haus hielt und von dem überliefert ist, daß er in der Dämmerstunde gern ein Glas Kanariensekt zu sich nahm.


Joseph Fesch war, wie ich später in meinem alten Guide Bleu nachlas, der Sohn einer späten zweiten Ehe der Mutter Letizia Bonapartes mit einem in genuesischen Diensten stehenden Schweizer Offizier gewesen und somit ein Stiefonkel Napoleons. Zu Beginn seiner ekklesiastischen Karriere versah er ein unbedeutendes Kirchenamt in Ajaccio. Nachdem er aber von seinem Neffen zum Erzbischof von Lyon und Generalbevollmächtigten am Heiligen Stuhl ernannt worden war, entwickelte er sich zu einem der unersättlichsten Kunstsammler seiner Zeit, einer Zeit, in der der Markt im wahrsten Sinne des Wortes überflutet war mit Gemälden und Artefakten, die während der Revolution aus. Kirchen, Klöstern und Schlössern geholt, den Emigrés abgenommen und bei der Plünderung der holländischen und italienischen Städte erbeutet wurden.



Fesch beabsichtigte nichts weniger, als mit seiner privaten Sammlung den gesamten Verlauf der europäischen Kunstgeschichte zu dokumentieren. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Bilder er tatsächlich besaß, aber es sollen an die dreißigtausend gewesen sein. Unter dem, was nach seinem 1838 erfolgten Tod und nach diversen Winkelzügen des mit der Testamentsvollstreckung beauftragten Joseph Bonaparte in das eigens in Ajaccio gebaute Museum gelangte, befinden sich eine Madonna von Cosimo Tura, Botticellis Jungfrau unter einer GirlandePier Francesco Cittadinis Stilleben mit türkischem Teppich, Spadinos Gartenfrüchte mit PapageiTizians Porträt des jungen Manns mit dem Handschuh und andere wundervolle Gemälde.


Die Rekapitulierung der Vergangenheit ist von Anbeginn ausgerichtet auf den Tag der Erlösung, im Falle Chateaubriands auf den 4. Juni 1848, an dem der Tod in einem Rez-de-chaussée in der Rue du Bac ihm die Feder aus der Hand nimmt ...


Am Anfang der Laufbahn steht die Kindheit in Combourg, deren Beschreibung mir schon nach der ersten Lektüre unvergeßlich geblieben ist. Francois-René ist das jüngste von zehn Kindern, von denen die ersten vier nur ein paar Monate jeweils am Leben waren. Die Nachgeborenen werden auf die Namen Jean-Baptiste, Marie-Anne, Bénigne, Julie und Lucile getauft. Alle vier Mädchen sind von einer seltenen Schönheit, insbesondere Julie und Lucile, die beide umkommen werden in den Stürmen der Revolution. Die Familie der Chateaubriands lebt in völliger Abgeschiedenheit mit einigen Dienstboten im Herrenhaus von Combourg, in dessen weiten Räumlichkeiten und Gängen sich ein halbes Ritterheer hätte verlaufen können. Abgesehen von ein paar benachbarten Edelleuten wie dem Marquis von Monlouet oder dem Grafen Goyon-Beaufort kam kaum einmal jemand auf das Schloß zu Besuch. Vor allem in der Winterszeit, schreibt Chateaubriand, vergingen oft Monate, ohne daß irgendein Durchreisender oder Fremder an das Tor unserer Festung geklopft hätte.


Weit größer noch als die Trauer über der Heide war darum die Trauer im Inneren dieses einsamen Hauses. Wer unter seinen Gewölben herumging, hatte Anwandlungen, wie man sie haben mag beim Betreten einer Kartause. Um acht Uhr immer schlug die Glocke zum Nachtmahl. Nach dem Nachtmahl setzten wir uns noch einige Stunden ans Feuer. Der Wind klagte im Kamin, die Mutter seufzte auf dem Kanapee, und der Vater, den ich, außer bei Tisch, nie sitzen gesehen habe, wanderte bis zur Bettzeit ununterbrochen in dem riesigen Saal auf und ab. Er trug stets eine Robe aus einem weißwollenen Zottelstoff und eine ebensolche Kappe auf dem Kopf. Sowie er sich bei diesen Promenaden etwas entfernte aus der Mitte des nur von dem flackernden Kaminfeuer und einer einzigen Kerze erleuchteten Raums, begann er in den Schatten zu verschwinden, und einmal ganz eingetaucht in die Dunkelheit, vernahm man nur mehr seine Schritte,  bis er wieder zurückkam in seiner eigenartigen Aufmachung gleich einem Gespenst. 


Während der schönen Jahreszeit saßen wir in der entfallenden Nacht oft draußen auf der Treppe vor dem Haus. Der Vater schoß mit der Flinte auf die ausfliegenden Eulen, und wir Kinder schauten mit der Mutter hinüber zu den schwarzen Wipfeln des Waldes und hinauf in den Himmel, wo einer nach dem andern die Sterne aufgingen. Mit siebzehn Jahren, schreibt Chateaubriand, habe ich Combourg verlassen. Der Vater machte mir eines Tages die Eröffnung, daß ich von nun an meinen eigenen Weg gehen müsse, daß ich in das Régiment de Navarre eintreten und morgen über Rennes nach Cambrai abreisen würde.  Hier, sagte er, sind einhundert Louis d'or. Vergeudet sie nicht und bringt niemals Unehre auf Euren Namen. Er litt zum Zeitpunkt meines Abschieds bereits an der fortschreitenden Paralyse, die ihn schließlich ins Grab bringen sollte. Sein linker Arm zuckte andauernd, und er mußte ihn festhalten mit der rechten Hand. So stand er, nachdem er seinen alten Degen mir übergeben hatte, mit mir vor dem Cabriolet, das schon wartete auf dem grünen Hof. Wir fuhren den Fahrweg beim Fischweiher hinauf, ich sah noch einmal den Mühlenbach glänzen und die Schwalben kreuzen über dem Schilf. Dann blickte ich voraus, auf das weite, vor mir sich eröffnende Feld.


Man schreibt das Jahr 1795. In den Sommermonaten kommt öfters ein junger französischer Adeliger zu Besuch, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Ives unterhält sich mit ihm meist über die Homerischen Epen, über die Rechenkunst Newtons und über die amerikanischen Reisen, die sie beide gemacht haben. Was für Weiten man dort durchmaß und was für Wälder sich dort ausdehnten mit Bäumen, deren Schäfte höher hinaufragten als die Pfeiler der größten Kathedralen. Und die in die Tiefe hinabstürzenden Wassermassen des Niagara, was bedeutete ihr ewiges Tosen, wenn nicht auch ein Mensch am Ufer des Katarakts stand und seiner Verlassenheit inne war in dieser Welt. Charlotte, die fünfzehnjährige Tochter des Rektors, lauschte mit wachsender Hingabe diesen Gesprächen, insbesondere wenn der vornehme Gast phantastische Geschichten ausmalte, in denen federgeschmückte Krieger vorkamen und Indianermädchen, deren dunkle Haut einen Anhauch zeigte von moralischer Blässe. Einmal mußte sie vor lauter Rührung sogar geschwind in den Garten hinauslaufen, als davon erzählt wurde, daß der brave Hund eines Eremiten ein solches in der Seele schon zum Christentum hingeneigtes Mädchen sicher durch die gefahrvolle Wildnis geleitete. Von dem Erzähler später befragt, was an seiner Schilderung sie so besonders bewegt habe, äußerte Charlotte, es sei vor allem das Bild des Hundes gewesen, wie er mit der Laterne, die er an einem Stecken trug in seinem Maul, der angsterfüllten Atala vorausgeleuchtet habe auf ihrem Weg durch die Nacht. Dergleichen Kleinigkeiten seien es immer, die sie ergriffen, weitaus mehr als die hohen Gedanken. 


Es lag also sicherlich in der Entwicklung der Dinge, daß der aus seinem Heimatland verbannte, in den Augen Charlottes ohne Zweifel von einer romantischen Aura umgebene Vicomte im Verlaufe der Wochen allmählich die Aufgaben eines Hauslehrers und Vertrauten übernahm. Daß man im Französischen sich übte, Diktate und Konversation machte, verstand sich von selbst. Charlotte bat ihren Freund aber auch, ihr weiter ausgreifende Studienpläne auszuarbeiten über das Altertum, über die Topographie des Heiligen Landes und über die italienische Literatur. Lange Nachmittagsstunden lasen sie miteinander in Tassos Gerusalemme Liberata und in der Vita Nuova, und nicht selten zeigten sich dabei scharlachrote Flecken am Hals des jungen Mädchens und klopfte dem Vicomte das Herz bis unter die Halsbinde. Mit einer Musikstunde endete meistens der Tag. Wenn es im Inneren des Hauses bereits ein wenig dämmerte, draußen aber das westliche Licht noch den Garten durchstrahlte, spielte Charlotte das eine oder andere Stück aus ihrem Repertoire, und der Vicomte, appuyé au baut du piano, hörte ihr schweigend zu. Er war sich der Tatsache bewußt, daß sie sich durch das gemeinsame Studium Tag für Tag näher kamen, suchte die größte Zurückhaltung sich aufzuerlegen, war überzeugt, daß er es nicht wagen würde, Charlotte den Handschuh aufzuheben, und fühlte sich dennoch unwiderstehlich angezogen von ihr. Mit einiger Konsternation, so schreibt er später in seinen Erinnerungen von jenseits des Grabs, sah ich bald den Augenblick voraus, an dem ich gezwungen sein würde, mich zurückzuziehen. Das Abschiedsdiner war eine tieftraurige Angelegenheit, bei der niemand etwas Rechtes zu sagen wußte und wo am Ende, zum Erstaunen des Vicomtes, nicht die Mutter, sondern der Vater mit Charlotte sich in den Drawing Room hinüberbegab. Die Mutter aber, die, in der außergewöhnlichen Rolle, die sie unter Hintansetzung aller hergebrachten Sitte zu spielen hatte, nun selber, wie der Vicomte bemerkt, ungemein verführerisch wirkte, hielt bei dem sozusagen schon im Abreisen Begriffenen um seine Hand an für ihre, ihm in ihren Gefühlen, wie sie sagte, ganz und gar bereits angehörige Tochter.


Sie haben kein Vaterland mehr, sagte sie, Ihre Güter sind veräußert, Ihre Eltern nicht mehr am Leben, was also könnte Sie zurückrufen nach Frankreich. Bleiben Sie bei uns und treten Sie hier in Ihr Erbe ein als unser angenommener Sohn. Der Vicomte, der die Großzügigkeit dieses gegen einen mittellosen Emigranten vorgebrachten Angebots kaum zu fassen vermochte, sah sich durch die von dem Reverend Ives offenbar gebilligte Intervention in den denkbar größten inneren Aufruhr gestürzt. Denn einerseits ersehnte er, wie er schreibt, nichts so sehr, als unerkannt von der Welt im Schoße dieser einsamen Familie den Rest seines Lebens zubringen zu dürfen, andererseits war jetzt der melodramatische Moment gekommen, da er die Eröffnung machen mußte, daß er bereits verehelicht sei. Zwar war die von ihm in Frankreich eingegangene, von seinen Schwestern gewissermaßen über seinen Kopf hinweg arrangierte Ehe eine Art Formsache geblieben, aber das änderte nicht im geringsten die Unhaltbarkeit seiner von ihm selbst mitverschuldeten peinlichen Lage. Als er das von Mme. Ives mit halb niedergeschlagenen Augen vorgebrachte Angebot ausschlägt mit dem Verzweiflungsruf  Arrêtez! Je suis marié!, fällt diese in Ohnmacht, und ihm bleibt nichts, als das gastliche Haus auf der Stelle zu verlassen mit dem Vorsatz, nie mehr wiederzukehren. 


Später, bei der Niederschrift der Erinnerung an den unglückseligen Tag, fragt er sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn er sich verwandelt und in der entlegenen englischen Grafschaft ein Leben als gentleman chasseur geführt hätte. Wahrscheinlich hätte ich dann niemals auch nur ein einziges Wort zu Papier gebracht, wahrscheinlich hätte ich schließlich sogar meine Sprache vergessen. Wieviel, fragt er sich, würde Frankreich verloren haben, wenn ich solchermaßen mich aufgelöst hätte in Luft? Und wäre es nicht am Ende ein besseres Leben gewesen? Ist es nicht unrecht, sein Glück für die Ausübung eines Talents zu vergeuden? Wird mein Geschriebenes hinausreichen über mein Grab? Wird überhaupt irgend jemand es noch begreifen können in einer von Grund auf veränderten Welt? — 




Der Vicomte schreibt diese Zeilen im Jahr 1822. Er ist jetzt Botschafter des Königs von Frankreich am Hof Georgs IV. Eines Morgens, als er in seinem Kabinett bei der Arbeit sitzt, wird ihm von seinem Kammerdiener gemeldet, eine Lady Sutton sei vorgefahren und wünsche ihn zu sprechen. Als die fremde Dame, in Begleitung von zwei etwa sechzehnjährigen Knaben, die gleich ihr Trauer tragen, über die Schwelle tritt, scheint es ihm, als könne sie sich kaum aufrecht halten vor innerer Bewegung. Der Vicomte nimmt sie bei der Hand und geleitet sie zu einem Sessel. Die beiden Knaben stellen sich ihr zur Seite. 


Die Dame aber sagt mit leiser, gebrochener Stimme, indem sie die schwarzen Seidenbänder, die von ihrer Haube herabhängen, ein wenig beiseite streift, Mylord, do you remember me? Und ich, schreibt der Vicomte, erkannte sie wieder, nach siebenundzwanzig Jahren saß ich wieder zu ihrer Seite, und die Tränen traten mir in die Augen, und ich sah sie, durch den Schleier dieser Tränen hindurch, gerade so, wie sie gewesen war in jenem so lang schon in die Schatten gesunkenen Sommer. Et vous, Madame, me reconnaissez-vous? fragte ich sie. Sie jedoch erwiderte nichts, sondern blickte mich bloß an mit einem dermaßen traurigen Lächeln, daß ich ahnte, daß wir uns geliebt hatten, weit mehr, als ich mir damals eingestand.-  
Ich trage Trauer um meine Mama, sagte sie, der Vater ist schon vor Jahren verstorben. Mit diesen Worten entzog sie mir ihre Hand und bedeckte ihr Angesicht. Meine Kinder, fuhr sie nach einiger Zeit fort, sind die Söhne des Admirals Sutton, den ich geheiratet habe drei Jahre nachdem Sie fortgereist sind von uns. Verzeihen Sie mir. Mehr vermag ich heute nicht zu sagen. — 



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